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Multitude Hommage a Witold Lutoslawski für Streichquartett Gemeinschaftskomposition des Apollon Musagete Quartetts

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  • Multitude

    Hommage a Witold

    Lutoslawski

    für Streichquartett

    Gemeinschaftskomposition des

    Apollon Musagete Quartetts

  • "Das Projekt der Gemeinschaftskomposition des Apollon Musagete Quartetts ist etwas ganz

    außergewöhnliches. Mit dem Schaffen dieses Werkes gehen die Mitglieder des Ensembles

    neue Wege, die vielleicht richtungsweisend werden, jedenfalls katapultieren sie sich damit in

    die vordersten Reihen." - Günter Pichler (Primarius des Alban Berg Quartetts, Professor an den

    Musikuniversitäten Wien, Köln und Madrid)

    Multitude - Hommage a Witold Lutoslawski von Apollon Musagete Quartett, 2010

    Dauer: 6‘30‘‘

    Deutsche UA: 11.11.10, Münchner Herkulessaal – Zyklus Kammermusik der Nationen

    Verlag: Musikverlag Doblinger/Austria, Publizierungsdatum 2011

    Einspielungen: Studioproduktion Deutschlandradio Kultur, Video – ORF Fernsehstudio

    Der Kompositionstitel Multitude

    der Begriffs Multitude hat seinen Ursprung in der politischen Philosophie. Seine kürzeste Definition,

    beschreiben die Philosophen Antonio Negri und Michael Hardt1 als „Singularitäten, die gemeinsam

    handeln“. Paolo Virno2 spricht von den "Vielen als Viele" um die Multitude zu kennzeichnen. Die

    Multitude wird verstanden als ein offenes Beziehungsgeflecht, ein Netzwerk von Singularitäten, das

    nicht homogen oder mit sich identisch ist. Diese Aussage trifft auch – jetzt in einem nicht

    ideologischen Sinne - auf die Zusammenkunft von vier stark ausgeprägten Musikpersönlichkeiten, die

    sich zu einem Quartett zusammenfinden und sich auf diese Weise in eine übergeordnete Sinneseinheit

    formen. Diese „Multitudo“ (lateinisch: Menge), die aus vier mit sich nicht identischen Singularitäten

    besteht und durch das gemeinsame Zusammenwirken zu einer fünften Dimension wird, hat sich zum

    Ziel das Schaffen einer musikalischen Komposition gesetzt.

    Inhalt von Multitude

    Der musikalische Gedanke von Multitude beinhaltet unterschiedliche Aspekte. Einerseits war uns eine

    retrospektive Beschäftigung mit den Parallelen zu der Streichquartettliteratur der Wiener Klassik mit

    ihrer Verwendung der rhetorischen Figuren (Abb.7) wichtig. Solche unabhängig von den Epochen und

    1 Antonio Negri (1933) und Michael Hardt (1960) - Philosophen, Literaturtheoretiker und Anhänger

    des Postoperaismus - einer Marxistischen Strömung – beschäftigten sich ausführlich mit dem

    Phänomen Multitude in ihrem Buch „Multitude, Krieg und Demokratie im Empire“, (Campus 2004)

    2 Paolo Virno (1952) - ein italienischer Philosoph, der sich mit semiologischen und politischen Fragen

    der Philsophie beschäftigt.

  • Stilrichtungen verständlichen Sinneinheiten wurden in den Kompositionsverlauf eingebaut, damit wir

    die Wirkung dieser Effekte in der zeitgenössischen Sprache ausprobieren können.

    Abb.4 – Multitude - Beispiele für die Verwendung der rhetorischen Figuren: 1) eine Art

    Circulatio – unregelmäßiges umzingeln einer kreisförmigen Figur , 2) Repetitio – Wiederholung

    des reduzierten Tonmaterials, 3) Abruptio – unvermittelter Abbruch des Satzes, 4) Antitheton:

    vergleichende Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Aspekte (am Ende des oberen Systems

    Cluster e2-g2, am Anfang des unteren Systems gis2; dadurch Gegenüberstellung

    Klangfläche/monodische Linie sowie Gegenüberstellung des „Moll-„ und „Dur-„ Charakter/g2

    auf gis2), 5) Imitatio – erste Violine wird von den anderen Stimmen imitiert, 6) Dubitatio – ein

    zögerndes Innehalten der melodischen Linie und Auflösung in die 7) Sustentio – überraschende

    Auflösung der heterophonen Linie in eine Akkordfläche.

    Ferner finden in der Komposition Multitude unterschiedliche Entwicklungs- und Wandlungsprozesse

    statt, die den dramaturgischen Verlauf des Werkes dynamisch halten. So wie der Anfang

    gewissermaßen frei im Puls ist (Abb.2), hat der Schlussteil eine feste Rhythmik in wechselnder

    geraden und ungeraden Pulsation (Abb3). Ferner gibt es einen organischen Übergang von fixen

    Tonhöhen am Anfang (Abb2) in die geräuschhafte Phase des Endes (mit nicht definierter Tonhöhe,

    Abb.3). Ein anderer Prozess ist der allmähliche Wechsel von der mikrotonalen Ebene innerhalb eines

    Registers (Abb.2) zur chromatischen Heterophonie (Abb.4) und weiter bis zu Akkordfeldern die

    mehrere Register ausfüllen (Abb.5).

    Abb.2 – Beispiel für einen freien musikalischen Verlauf ohne Puls bei Verwendung der fixen

    Tonhöhen innerhalb einer mikrotonalen Ebene im gleichen Register

  • Abb.4 – Beispiel für eine feste Rhythmik in wechselnder geraden und ungeraden Pulsation und

    für die geräuschhafte Phase des Endes (mit nicht definierter Tonhöhe)

    Abb.5 – Beispiel für eine chromatische Heterophonie in Multitude

    Abb.6 – Beispiel für Akkordfelder, die mehrere Register ausfüllen (z.B.: Des-As-f1-e2-c3; d-a-f1-

    fis2-b2)

  • Vorbild und Anregung für Multitude: Witold Lutoslawskis Streichquartett, 1964

    „Lutoslawski ließ sich bei der Konzeption seines einzigen Streichquartettes von der Vorstellung vier

    voneinander unabhängig spielender Instrumentalisten leiten und schrieb das Werk nicht in Partitur

    nieder, sondern in vier separaten Einzelstimmen3. Indem Lutoslawski über weite Stimmen auf

    Taktstriche verzichtet und es außerdem jedem Spieler freistellt, das Tempo einer bestimmten Tonfolge

    oder die Dauer eines Einzeltons beziehungsweise einer Pause im Rahmen von Richtwerten selbst zu

    bestimmen, gleicht der Zusammenklang der Stimmen einem Kaleidoskop, dessen Material ständig

    neue Gestalten hervorbringt. Lutoslawski selbst hat die Mobiles des amerikanischen Pop-art-

    Künstlers Alexander Calder4 als Vorbild für das kompositorische Zufallsprinzip seines

    Streichquartetts bezeichnet“ - Mark Schulze Steinen5

    Mit dem Streichquartett von Witold Lutoslawski kamen wir bei den Vorbereitungen für den 57.

    Internationalen Musikwettbewerb der ARD München in Berührung. Die in der Komposition

    beinhaltete Freiheit im agogischen Bereich faszinierte uns als Interpreten von Anfang an. Dank dieser

    Idee wird eine außergewöhnliche interpretatorische Autonomie, die eine effektive Verwendung des

    individuellen künstlerischen Potenzials ermöglicht, geschaffen. Dies macht das Werk immer aufs

    Neue zum Hören und Aufführen interessant.

    Dank der genauen Einstudierung des Streichquartettes von Lutoslawski gewannen wir Kenntnisse über

    den Stil, Aufbau und die darin verwendeten kompositorischen Techniken und ließen uns beim Prozess

    des Komponierens von Multitude vom Lutoslawskis Meisterwerk kontrolliert und bewusst

    beeinflussen. Die Parallelen werden bei den freieren Kompositionsabschnitten von Multitude in dem

    allgemeinen Prinzip der agogischer Organisation und der dafür gewählten von uns modifizierten

    Notationsart des Streichquartetts von Witold Lutoslawski sichtbar. Die untere Abbildung zeigt ein

    Beispiel für die Verwendung der Kästchen-Notationsart von Witold Lutoslawski in unserer

    Gemeinschaftkomposition Multitude.

    Abb.1 – Multitude: Kästchen-Notation

    3 Die Partitur wurde später vom Komponisten gefertigt (Kommentar von P.Skweres)

    4 Alexander Calder - ein US-amerikanischer Bildhauer der Moderne, der der kinetischen Kunst

    zugeordnet werden kann.

    5 Mark Schulze Steinen auf www.musiktext.de

  • Während die Kästchen-Inhalte im Streichquartett von Witold Lutoslawski gewissermaßen frei im

    agogischen Bereich ausführbar sind, ließen wir in Multitude für den Interpreten noch andere Parameter

    offen um den improvisatorischen Charakter und die Einbeziehung des Ausführenden in den

    Kompositionsprozess zu verstärken. Beim in der oberen Abbildung gezeigten Kompositionsabschnitt

    wurden allgemeine Richtlinien wie der Tonumfang, die Spielart (z.B.: sul ponticello), Dynamik und

    der allgemeine Charakter des Kästchen-Inhaltes (die allgemeine Charakterattitude ist in der

    Werklegende genauer beschrieben, der Kästchen-Text beinhaltet nur die Spielanweisungen) fixiert.

    Die restlichen Faktoren wie die reale Dauer der einzelnen Töne und der mikrotonalen Passagen sowie

    die exakten Tonhöhen wurden dem Ausführenden überlassen. Die Ausführung des oberen Beispiels

    könnte in etwa in der zeitlichen Darstellung so ausschauen:

    Abb.2 – Multitude: möglicher zeitlicher Verlauf von Abb.1

    AMQ im Interview über das Projekt Multitude

    Ensemble, Magazin für Kammermusik, Ausgabe Jänner/Ferbuar 2010, Artikel von Carsten Dürer:

    „„Wir suchen also immer neue, andere Bereiche, die wir ausprobieren wollen, wir wollen unsere

    Tätigkeiten vertiefen und ausweiten“, erklärt Zalejski und erwähnt noch andeutungsweise: „Wir

    werden ein Werk für uns schreiben und auch aufführen.“ Doch an dieser Stelle ist (…) Piotr Skweres,

    gefragt, dieses Vorgehen näher zu erklären: „(…)Es gab schon immer den Wunsch, dass Komponisten

    mit den Interpreten zusammenarbeiten wollten, so beispielsweise Brahms mit Joseph Joachim. Meist

    war dies aber bei mehreren Interpreten nicht in der Tiefe möglich, wie die Komponisten es sich

    vielleicht wünschten. Wir werden aber ein Stück schreiben und dann erarbeiten. Wir werden uns also

    einen dramaturgischen Ablauf überlegen, (…) Skizzen zusammenstellen, die dann besprochen werden.

    Auf dieser Grundlage wird dann improvisiert und geprobt. Dabei wird sich dann detailliert

    herausstellen, was daraus wird. Wir nähern uns dem Werk dann immer und immer weiter von der

    Ferne bis zum kleinsten Detail. Es gibt natürlich Spielregeln, auch wenn wir einige Züge der Aleatorik

    integrieren. Das Tolle dabei wird sein: Wir können mit vier inspirierten Köpfen überlegen, analytisch

    vorgehen und alles erarbeiten. Wir machen das, damit wir letztendlich noch besser verstehen, wie die

    Verbindung zwischen den Komponisten und den Interpreten aussieht. Das wird uns dann letztendlich

    auch in der Zusammenarbeit mit großen Komponisten helfen““

  • Die Mitglieder Apollon Musagete Quartetts mit dem Manuskript und Skizzen zu der Komposition

    Multitude © 2010 Paul Harris, VON-Magazine

    Andere über das Projekt Multitude:

    Valentin Erben (Alban Berg Quartett, Professor an den Musikuniversitäten Wien, Köln): „Viele

    junge Streichquartett-Vereinigungen gehen heute zu sehr den Weg der Individualisierung der

    einzelnen Musiker. Es ist ein Weg des kleineren Widerstandes und geht auf Kosten der Einheit des

    musikalischen Ausdrucks. Das Ideal des Streichquartetts, vier starke Individuen, die die das ständige

    und unaufhörliche Ringen um Gemeinsamkeit nicht scheuen, scheint mehr und mehr der

    Vergangenheit anzugehören. Das Quartett Apollon Musagete beweist, dass es nicht so sein muss. Mit

    ihrer Komposition „Multitude“, und deren Interpretation beweisen sie, dass man neue Wege gehen

    kann, ohne tradierte Grundwerte über Bord zu werfen. Der Ernst, die Meisterschaft und ihre ehrliche

    innere Überzeugung, die sie dabei zeigen, sind beglückend. Sie setzen damit ein Signal und zugleich

    neue Maßstäbe in der heutigen Kultur des Streichquartetts.“

    VON-Magazine, Ausgabe Frühling 2010, Artikel von Rupert Schöttle: „Die Übereinstimmung der

    Musiker geht sogar so weit, dass sie etwas völlig Neues in Angriff nahmen: unter der Anleitung des

    Cellisten und Komponisten Piotr Skweres komponierten die Vier gemeinsam ein Streichquartett.

    Inspiriert wurden sie dazu von dem Quartett ihres Landsmannes Witold Lutoslawski, der in seinem

    Werk teilweise aleatorische Elemente einsetzte, Teile also, die nicht notiert sind und so den Musikern

    bei der Gestaltung völlig freie Hand lassen. Dies erbrachte so interessante Ergebnisse, dass sie mit

    Hilfe eines gemeinsam erstellten Konzepts ein Werk komponierten, wobei jeder seine Ideen

    einzubringen versuchte. Was die Vier einander noch näher brachte, denn dadurch bekamen sie einen

    noch besseren Einblick in den musikalischen Kosmos ihrer Partner. Dieses Werk wird übrigens im

  • Sommer dieses Jahres keinem Geringeren als ihrem Landsmann Krzysztof Penderecki präsentiert

    werden.“